Zu morgendlicher Stunde verschafften Neumi und Holgi sich durch ihren übereifrigen und heimlichen Sprint an das Frühstücksbuffett einen exorbitanten Vorsprung in der internen Teamwertung. Dieser Eifer sollte unsere Tagestaktik im weiteren federführend bestimmen.
Während unserer vorausschauenden Inspektion des Zielberges kam Holgis Rentner-Renault mit seinen fünf ersten Gängen an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Wir standen mit offenen Mündern, qualmendem Kühler und verschmorten Reifen auf dem Gipfel und staunten über die gigantische Steigung, französische Autos und Holgis sensiblen Fahrstil. Lediglich Neumi, der eine ostasiatische Spezialkettenblattbauart (drei unterschiedlich große, parallel angeordnete Kettenblätter) an seinem Rad (die Bezeichnung soll angeblich noch gelten) verbaut hatte, lächelte süffisant.
Die Besichtigung der letzten flachen Kilometer ins Ziel ließen mich wieder Hoffnung schöpfen und Holger endgültig verzweifeln. Der Wind stand zudem schön stetig auf der Kante. Im Start/Zielbereich instruierten wir unsere eigens angereiste Verstärkung hinsichtlich der geplanten Tagesziele und konkurrierender Mitfahrer.
Aus unserem Vortagesfehler lernend, fanden wir uns mehr als pünktlich am Start ein. Es war gerade noch rechtzeitig, um einen guten Platz in der zweiten Reihe zu erringen. Das erste Tagesziel hatten wir damit erreicht und beglückwünschten uns stolz gegenseitig zu unserer herausragenden Leistung.
Franzis Puls stieg derweil infolge der Vorstartaufregung von 90 Schlägen auf 110 Schläge. Beruhigend legte ich ihr meine Hand auf die Lenden. Nun stieg mein Puls in astronomische Höhen. Rechtzeitig bevor prähistorische Urinstinkte sich unaufhaltsam ihren Weg brachen, trennte ich, inzwischen schweißüberströmt, die prickelnde Verbindung.
Der Start des 100-Kilometerrennens verzögerte sich im Minutentakt, da der zu kreuzende Bahnübergang vom internationalen Zugverkehr intensiv genutzt wurde. Endlich kam die Rennfreigabe. Das Feld der Jedermannrecken setzte sich neutralisiert in gedrosselte Bewegung. Mit maximal 20 km/h wurde der lange Konvoi auf die Strecke gelotst. Erst als das letzte Begleitfahrzeug die Schranken passiert hatte, wurde das Rennen freigegeben.
Einheimische Jugend- und Schülerfahrer setzten sich, nur gebremst durch ihre Übersetzungsbeschränkung, hochfrequent zappelnd an die Spitze. Auf der B7 schossen wir Richtung Jena und Neumi fuhr mit anhaltendem morgendlichen Frühstückseifer die ersten Lücken zu. Rechtzeitig vor der Ortsdurchfahrt bildete Stefan, ein einheimischer, inzwischen stark übergewichtiger Ex-Elitefahrer, die Spitze und leitete uns feinfühlig durch den Kleinstadtverkehr Jenas. Da er in den letzten zwei Wochen den Zielberg lediglich 18mal absolviert hatte, fühlte es sich noch nicht wirklich fit für den finalen Anstieg und wollte wenigstens den ersten Teil der Strecke genießen.
Die Steigung aus Jena heraus hatten wir im letzten Jahr, sehr zum Verdruss des Veranstalters und zum Leid der abgeplatzten Radler genutzt, das Feld zu strecken und auszudünnen. Dieses Jahr übernahmen Dirk und Jan die Aufgabe der tapferen Fünf.
Der mathematisch begabte Leser und die im Portionieren von Speisen erfahrene Leserin können an der Stelle sicher schnell rekapitulieren, das zwei deutlich kleiner als fünf ist. Und so fand ich mich früher als geplant zur Tempoarbeit in der Spitze ein. Das Feld honorierte meine Leistung und ließ mich davonrollen. Ernsthaftigkeit ausstrahlend, beugte ich mich tief über den Lenker und vermied jeglichen Blick zurück. Ein weiterer Fahrer hatte Interesse an der gemeinsamen Ausfahrt und schloß auf. Mit Wölk wurden wir ein schnelles Trio und weckten den Ergeiz des Feldes. In diesem genossen wir schon bald wieder die Entspannung und lauschten den abklingenden Atemgeräuschen unserer Lungen. Die heute fast vollständig im Teamtrikot erschienenen Kopfjäger nutzten weiterhin jede Möglichkeit im Wind vor oder neben dem Feld Erfahrung zu sammeln und hielten das Tempo hoch.
Bei Kilometer 30 wurde es unruhig im Feld. All diejenigen, die den Streckenplan studiert und verinnerlicht hatten, schoben sich nach vorn. Jan wuchtete sich ein weiteres Mal, ein letztes Mal an die Spitze des Feldes und ging wie schon im Vorjahr brachial in den 12%igen Anstieg. Während das Feld verzweifelt versuchte dem Antritt zu folgen, sahen wir gleichfalls verzweifelt die schwerwiegenden Anzeichen des drohenden Einbruchs bei Jan flackern. Im oberen Drittel des Berges kam Jan zur absoluten Ruhe.
Da selbst Stefan seine 120 Kilogramm Systemgewicht an der Spitze des Peletons über den Berg brachte, fiel es mir mit meinem 5-Kilogrammvorteil relativ leicht, das Tempo weiter kontinuierlich hoch zu halten. Auf den folgenden zwei Wellen versuchte der Führende der Gesamtwertung, mich mit einem Gespräch über die Schönheit italienischer Altmännerräder zu motivieren. Es gelang ihm, denn beim kontrollierenden Blick zurück bemerkte ich zu meiner Freude ein deutliches Loch hinter den führenden sechs Fahrern. Mit diesem gesammelten Wissen machte ich mich wieder auf den Weg an die Spitze und überzeugte gonna in unserer heimischen Mundart mitzutun. Die anderen Fahrer ließen sich nach lautstarker verbaler Aufforderung ebenso von der Tempoforcierung überzeugen. Nach meinem Brüller war allerdings die Luft raus und ich kämpfte in den nächsten Wechseln ums Überleben. Dirk kam mit Tilman, dem Löwen, vorgesprungen und unterstützte unseren Ausreißversuch. Stefan drückte mit 54x12 und 576 Watt Rillen in den Asphalt und mir die Luft aus den Lungen und die Därme in den Wind. Wie so oft im Leben setzte sich an unpassendster Stelle überraschend die Vernunft durch und ich ließ mich kontrolliert zurückfallen. 20 Sekunden später saugten die heraneilenden Verfolger den regenerierenden Versager auf.
Damit haben die Picardellics ab 2008 einen kleinen aber feinen Seniorenstift in der deutschen Hauptstadt. Die notwendigen Modalitäten rund um Bekleidung, Material und Ausrüstung werden separat nach Eingang der Aufnahmegebühr verhandelt. Selbstverständlich wird der Kader zukünftig mit geräuscharm laufenden Rädern ausgestattet, um damit seine einbeinig zu absolvierenden Quietschanalysepassagen bei Jedermannrennen minimieren zu können.
Nichtsdestotrotz gratulieren wir den Eisenschweinkadern zum Gesamtsieg in der Seniorenwertung. Da im nächsten Jahr die dreifache Picardellismenge um diese begehrte Platzierung ringen wird (lediglich Holgi fährt mit Muttizettel in der Männerwertung), bietet unsere großzügige Offerte zum geordneten Übertritt des Kaders einigen seiner Mitglieder, die einmalige Chance, das Gesicht zu waren und in Würde den radsportlichen Lebensabend zu genießen.
Bis Bad Sulza und dem zweiten entscheidenden Anstieg schleppt sich das Hauptfeld träge dahin. Der Vorsprung der Spitzengruppe wächst auf 3 Minuten an. Dirk muß an dem Pflasterberg dem hohen Tempo Tribut zollen und verabschiedet sich. Wir vereinigen uns wenig später und werden uns nun nie mehr trennen.
Glücklicherweise hatte Holgi der ursprünglichen Teamtaktik inzwischen abgeschworen und wollte erst nach dem Ziel attackieren. Bad Sulza erschien ihm nach der schmerzhaften Erfahrung von Tempowechseln in Radrennen zu früh für neue Schmerzwellen. Holger hatte ich es also zu verdanken, dass sich meine Hetzjagd nach dem Kettenverlust am Sulzaer Berg in beherrschbaren Grenzen hielt. Neumi hatte sich schon zurückfallen lassen, um mir gegebenenfalls noch Unterstützuung zu bieten. Wir trafen uns aus unterschiedlichen Richtungen kommend am Ende der Gruppe, beglückwünschten uns zu unserer Leistung und tauchten gemeinsam wieder im Feld ein.
Die Kopfjäger schwankten inzwischen zwischen mannschaftsdienlicher Verzögerungstaktik und persönlichem Platzierungsergeiz an der Gruppenspitze im Wind. ESK versuchte derweil vehement, kontinuierlich und dauerhaft das Tempo hochzuhalten. Einzelne ernsthafte Ausreißversuche wurden von einem äußerst wachen Neumi immer wieder rigeros im Keim erstickt.
Beim allmählichen Durchqueren unserer kleinen Gruppe blieb noch genügend Zeit, mit Beate in Erfahrungsaustausch über typisch Thüringer Kochrezepte zu treten. Wirklich faszinierend und lehrreich war dann jedoch ihr Klöppelkurs für Fortgeschrittene. Die Abschlußaufgabe - ein Familienspannbettlaken - ziert nun ein Dresdner Ehebett.
25 Kilometer vorm Ziel entlockte mir Franko von den Kopfjägern mittels einer sehr geschickten Kreuzverhörtechnik den aktuellen Kilometerstand. In Erinnerung an seine herkulische Zeitfahrleistung über eine ähnliche Distanz und mit einem gehörigen Maß Selbstüberschätzung machte er sich allein auf den Weg zum Ziel. Da Selbstüberwindung nicht im Schnellkurs zu erringen ist und mir die Erfüllung seiner Teamphilosophie am Herzen lag, ließ ich ihn gehen und spekulierte auf den Wind und die Zeit. Neumi sah die Sache anders, witterte Schwäche (ha, Neumi, Schwäche, bei mir, ha, wir reden nochmal! Und dann fahren wir nochmal! ha) und hackte die Lücke zu. Der Kader blieb wachsam und hielt die Seniorenwertung im Auge. Diese Betrachtungen hatte ich nun gar nicht gemacht und ließ Neumi an der Stelle im Stich. Mein unzureichender Ergebnisüberblick kostete Neumi die Gesamtwertung.
Die Fünfergruppe kam weg und deutlich vor uns ins Ziel. Neumi konnte sogar den Kopfjägern noch wertvolle Sekunden in der Mannschaftswertung abnehmen.
Der verbleibende Rest der Gruppe scharrte sich noch dichter um Beate und zuckelte zum Berg.
Schnie, der letzte der Kopfjäger, quälte sich einer nun klaren Verzögerungstaktik folgend, im Wind. Er hatte uns am Vortag noch den ersten Platz in der Mannschaftswertung zugearbeitet. Der Umgang der Kopfjäger mit unterlegenen Feinden war ihm bekannt und ein wesentlicher Grund in den Verein einzutreten. Es macht verdammt viel Eindruck bei den Frauen, wenn am Gürtel des Mannes die Köpfe seiner Feinde baumeln. Gestern allerdings lernte Schnie den Umgang der Kopfjäger mit dem Versagen der eigenen Leute kennen. Kein Kopfjäger würde einem anderen Kopfjäger den Kopf abschneiden. Nein. Nicht den Kopf.
Tapfer rutschte Schnie 100 Kilometer auf der blutstillenden Einlage in seiner ansonsten leeren Radhose herum und und behielt die Picardellics fest im Auge.
Wieder auf der B7 übernahm xtrem die Tempogestaltung und wir flogen hinab, auf den letzten, den entscheidenden Anstieg zu.
Die Spitzengruppe ging satte 4 Minuten vor uns in den Berg und zersplitterte. Picco konnte dem jugendlichen Antritt des Eintagesfahrers nicht folgen und kämpfte erfolgreich um Platz 3. Gonna litt und schlich ewig später, üble Zeremonien ahnend ins Ziel.
Zum Glück hatte ich das Gehör erst sehr spät zugeschaltet, so dass nur das "Kühlschranktreffen" in mein Zentralhirn vordringen konnte. Diese Gemeinheit löste sofort eine bitterliche Tränensturzflut aus, die den Verursacher hinter mir hoffentlich in die Saale spülte - "Kühlschränke"! So eine Gemeinheit! Uns dynamischen, trainierten und fitten Radsportlern einen derartigen Vergleich an den Kopf zu werfen ist heimtückisch, fies und rücksichtslos. Kühlschränke sind ja wohl die dicken Dinger, die leise pfeifen, schnell müffeln, stabil im Weg stehen und immer leer sind. Gut, das cielab diesen Vorwurf ausreichend langatmig thematisiert hat. Gemeinsame Gegner verbinden.
Apropos, wie steht es eigentlich um die Mannschaftswertung? Eben zieht Beate an mir vorbei. Dann Holger. Und um mich komplett zu zermürben, auch noch Schnie.
Was zuviel ist, ist zuviel.
Wut schaltet Verstand ab. Entgültig. Der Körper beginnt Muskelmasse zu verbrennen und beschleunigt im Widerspruch zu allen Gesetzen der Schwerkraft nochmals. Der Berg wird flacher und der Wind bläst frisch ins Gesicht. Martialisch schließ ich zu Holgi auf. Holger zögert eine Radlänge hinter der Kleingruppe. Meine schiebende Hand überwindet seine preiswerten Bremsen und er hängt an der Gruppe. Er wirkt kippelig. So visualisiert sich also Erschöpfung. Manchmal braucht es keinen Spiegel. Den Verstand und Schmerz weiterhin abgeschaltet, setze ich mich an die Spitze. Schnie klebt am Hinterrad wie Pattex, Beate klöppelt und Holgi leidet.
Wir wechseln durch. Taktieren. Spekulieren.
Noch 1000 Meter.
Schnie zögert sich durch die Rechtskurve und lockt mich damit an sich vorbei.
Noch 500 Meter.
Beate trödelt sich in die Linkskurve.
Vorbei.
Jetzt geht es ums Ganze. Wer holt den Sprint aus der Frauengruppe? Und.....
....jawohl. Wie schon beim Zeitfahren komme ich diesmal nach 100 Kilometern und 1100 Höhenmetern zeitgleich mit Beate ins Ziel. Wirklich eine großartige, eine tolle Leistung für einen Mann, einen richtigen Mann. Derart gut im Thüringer Frauenfeld aufgestellt, erlöste mich erst Piccos Beförderung zu seinem Edeldomestiken aus der beginnenden Krise.
Die entsprechende Markierung - PED - wurde entsprechend den Statuten der Picardellics sofort im Ziel auf beiden Waden des beförderten Fahrers aufgebracht. Kuscheltattoos verachtend, nutzen wir für die dauerhafte, wetterbeständige Präsentation selbstverständlich die Beständigkeit der Brandeisenkennzeichnung. Und so lag im Zielbereich der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft.
Die herzhaften Thüringer Spezialitäten genießend überbrücken wir die Zeit bis zur Siegerehrung. Jan kommt gerade noch rechtzeitig in Franzis Schlepptau ins Ziel, um die geschichtlich relevanten Momente für die Nachwelt photodokumentarisch festzuhalten.
Auf Platz 2 stehend, vergißt Franzi schnell wieder Leid, Frust und Einsamkeit ihrer um 24 Minuten längeren Radtour. Sie hatte das Pech, bei Jans Attacke den Anschluß zu verlieren. Mit zahlreichen Windflüchtern im Schlepptau oblag ihr die komplexe Verantwortung für Tempo, Strecke und Unterhaltung. Jans beziehungskompatible Ader ließ ihn das aufziehende Gewitter spüren und rechtzeitig zu seiner Geliebten zurückkehren, um gefühlsregulierend eingreifen zu können. Mit den didaktisch klug ausgewählten Themen zur Flora und Fauna Thüringens gelang es ihm schnell die Stimmung zu entspannen.
Neumi hatte sich den Tagessieg gesichert und damit allen Grund vom Podest zu jubeln. Leider ging der Gesamtsieg nochmal an den Kader, doch Neumi trug es mit Fassung. Unser Lapsus wird sicher die zarten Bande zu unserem Seniorenstift verstärken, wachsen und gedeien lassen.
Mit seinem dritten Platz in der Tageswertung der Männer, rutschte Picco zudem in der Gesamtwertung aufs Treppchen. Jetzt konnte er über seine mässige Platzierung beim Zeitfahren nur müde lächeln. Radrennen sind halt Radrennen und Triathlon ist Triathlon. Es ist schade, dass selbst die UCI völlig unterschiedliche Dinge auf so unverständliche Art und Weise vermischt.
Die Auswertung der Ergebnisse für die Mannschaftswertung zog sich weiter in die Länge. Nach zwei Stunden frustrierenden Wartens gaben wir auf und packten zusammen. Vor der Abfahrt diskutierten wir mit den relevanten Podiumsaspiranten die möglichen Platzverteilungen und hielten diese im Bild fest. Die Bestätigung unserer Vorzugsvariante kommt hoffentlich in Kürze vom Veranstalter. Fakt ist auf jeden Fall, dass sich das Podium fest in Dresdner Hand befindet.
Sollten die Kopfjäger an der Stelle wiederum gepatzt haben, drohen drakonische Picardellicsrituale.
Zufrieden, glücklich und voll beladen machten wir uns auf den Heimweg. Das Saisonende wird sich bei derartiger Motivation noch mächtig gewaltig hinziehen. Kommenden Sonntag bieten sich rund um die Protour in Sebnitz weitere Möglichkeiten die Saison stilvoll zu beenden.
Gespannt auf den weiteren Saisonabschluß,
Thomas.