Oktober 2006, es wird kühl in Deutschland. Die Pinguine sammeln sich entlang der Seen und Flüsse, um in den Süden zu ziehen, die Eisbären bekommen ihr dichtes Winterfell und die netten Arbeitskolleginnen begrüßen den fröstelnden Ankömmling mit einem gejuchzten „Ach, Sie kommen bei dem Wetter noch mit dem Rad?!“.
Am Arbeitsplatz angekommen, die Türen sicher zur Abwehr dieser Labbertaschen verriegelt und optimistisch aufs Tagesgeschäft hoffend, überrascht eine gewichtige Mail unseres Vorstandes: wie schon im letzten Jahr sollte das Ende der Radsaison mit einer gemeinsamen Ausfahrt des Coswiger Radvereins gewürdigt werden. Schöne Sache, waren wir doch damals bei morgendlich frostiger Kühle in den Nebel gestartet, um dann im großen Fahrerfeld und strahlendem Sonneschein gemeinsam durch die Großenhainer Pflege pedalieren zu können. Leider waren die Coswiger dieses Jahr auf die Idee verfallen ihre letzte Ausfahrt auf der just fertiggestellten Autobahn absolvieren zu wollen. Also konnte der einfache Radfahrer endlich einmal gemütlich zwischen noch glänzenden Leitplanken, unendlichen, übermannshohen Erdwällen und entlang der Lärmschutzwände der vielen Brücken über ehemals ruhigen Tälern auf einem Glanzstück der naturfernen Planung radeln, gegen den Wind an gleichmässigen und langgezogenen Steigungen keuchen und das frische Grün der verbliebenen Waldreste bewundern. Also keine geschwungenen Abfahrten, keine schmerzhaften Anstiege, keine streitsüchtigen motorisierten Verkehrsteilnehmer, wozu dann noch Radfahren?
Nach einigen kurzen polemischen Zeilen, widmete ich mich den täglichen Freuden des beratungsresistenten öffentlichen Dienstes.
Mit dem Wissen um die phantasievollen Wünsche stetig runder werdender Frauen und dem trotzdem gewaltigen Bewegungsdrang eben jenes Personenkreises, erschien es mir unabdingbar, am Abend eine Alternative durch die sächsische Toskana (O-Ton Wody bei einer gemeinsamen Ausfahrt zwischen Nossen, Lommatzsch und Meißen) für die Freunde eines gemässigteren Tempos anzubieten. Ein wenig wehmütig war mir schon ums Herz, einige der Picardellics deshalb vielleicht nicht sehen zu können, macht es doch immer wieder Spaß Sandra auf ihrem farbenfrohen Cannondale zu sehen, Windschatten hinter Bratwursts medizinballgroßen Waden zu finden oder den Sand der ersten Frühjahrsausfahrt an Erics Rad zu bewundern.
Es wurde Sonntag, ein trüber Sonntag. Die Wolken hingen tief, der Temperatur tat es ihnen gleich und der Wind fauchte durchs Elbtal. Die arktischen Temperaturen zwangen mich und meine dicht folgende Gefährtin mehrfach zur blitzartigen und überstürzten Blasenentlehrung. Immer noch schliff im Zeitplan, gab der globale Straßenbau im Großen Garten leider unserem engen Zeitplan den Rest, wir verspäteten uns.
Mischka, jede Chance für gelebte Nervosität nutzend, brachte zwischenzeitlich ein Handy und einen Meißner Küchentisch zum vibrieren. Zum Glück für uns verzögerte sich damit die Abfahrt der zahlreich erschienenen Picardellics und wir konnten alle zumindest begrüßen.
Jan, wie immer zielorientiert, männlich, sachlich, drängte zum Aufbruch, wollte er uns doch mit Franzi, Matze und Anne zur gemütlichen Familienausfahrt begleiten. Mit Eric, der das Jahr geruhsam ausklingen lassen wollte, mit Angie und Picco, den wir mit Kuchen locken konnten, waren wir eine annehmbar große Gruppe geworden.
Und dann geschah es, plötzlich und überraschend schlugen die verbleibenden 17 Picardellics die schnöde, langweilige Autobahn in den Wind und suchten das Gespräch mit Angie, Franzi, Anne und Bratwurst. Das riesige Fahrerfeld schob sich durch das erwachende Dresden. Unsere Größe verblüffte derart, dass wir ohne Hubkonzerte, ohne drängelnde oder drohende Kfz-Führer bis an den Anstieg nach Merbitz kamen.
Dort angekommen spürte ich deutlich die Einschränkungen, die einem durch eine wachsende Familie auferlegt werden: das Tandem mit der kugligen Kerstin lies sich nur widerwillig und zäh den Berg emporwuchten. Im weiteren Streckenverlauf konnten Jonny bzw. Matze, beides erfahrene und bewährte Familienväter, unser Leid nicht mehr mit ansehen und schoben, zogen, zerrten heftig mit an dem Tandem und schonten damit meine geringer werdenden Reserven. Kerstin, meist freihändig, immer schwatzend, genoß die Landschaft und die Kommunikation. Auf den Abfahrten wurde der große Nachteil unseres vollbesetzten Tandems glücklicherweise zu einem rasanten Vorteil. So wurde Franzi, welche gerade netterweise am Berg wartete, auf der folgenden Schußfahrt gnadenlos abgedreht und es dauerte Stunden, ja fast Tage bis wir uns wieder sahen. Kerstin sah dafür Eric auf seinem neuen Rad. Eric, ein neues Rad? Nein, lediglich sein geputztes Rad.
Die Größe der Gruppe lies natürlich alle Pläne von wegen „gemütlicher Familienausfahrt“ im Winde vergehen. Frank versuchte zudem unermüdlich die Saison noch zu seinen Gunsten zu beeinflussen und kämpfte tapfer um jedes Ortsschild und erwarb damit das unkündbare Recht im nächsten Jahr mit uns richtige Rennen fahren zu dürfen. Sein Antrag auf eine C-Lizenz liegt bereits unterschrieben vor.
An der Kreuzung mit der S85 wartete das Picardellics-Fahrerfeld geschlossen und geduldig auf die weit versprengten Nachzügler. Während Angie einen ihrer köstlichen Riegel verzehrte, hielt ein Transporter des Riesaer Sportclubs. Freudestrahlend stürzten sich Fahrer und Beifahrer auf uns und berichteten, das sich ja zwei Fahrer im Nachbarort verfranzt hätten und deshalb gleich kommen würden.
„Und habt Ihr die Handynummer vom Dings, na dem, ähm, na Dings da …“ sprudelte die Begeisterung wieder Anschluß gefunden zu haben, aus ihnen heraus. Leider mussten Sie jetzt schmerzhaft erkennen, die falsche Radgruppe gefunden zu haben. Während die beiden hektisch wieder zu ihrem Fahrzeug rannten, kamen die avisierten „Ver-“Fahrer an, reihten sich bei uns ein, erkannten schneller als deren Betreuer die andersfarbigen Trikots und traten fluchend und noch immer allein wieder an.
Wir waren nun auch vollzählig, teilweise ausgeruht und teilweise, aufgrund des mächtig gewaltigen Leistungsgefälles auch durchgefroren. Um das Picco gegebene Kuchenversprechen doch noch einlösen zu können, rasteten wir in Meißen und okkupierten eine Konditorei. Die Chance und die Erschöpfung Kerstins schnell nutzend, beendete ich das nervenzehrende Tandemkrafttraining und tauschte den Doppelsitzer gegen ein vernünftiges Rad.
Mit der daran befindlichen, ebenfalls vernünftigen Luftpumpe war es Jonny an der Scharfenberger Fähre ein leichtes, seinem Reifen wieder ausreichend Luft einzuflössen.
An der Brücke in Niederwartha trennten sich die Wege der Picardellics für diesen Sonntag endgültig und eine 90 km lange, gemeinsame Ausfahrt fand ein geruhsames Ende.
Da erst eine Woche später augenfällig wurde, dass manche, hier aus Gründen der Achtung und Anteilnahme ungenannt bleibende, Dame (auf einem Rad amerikanischer Bauart), mit verschiedenfarbigen Reifen und schlagfesten, einbruchsicheren, überdimensionalen Beautycases unterwegs war, möchte ich an dieser Stelle auch gar nicht weiter darauf eingehen oder gar Vergleiche zu den voluminösen Packtaschen (gut gefüllt mit Regenjacke, Zelt, Kochgeschirr, Taucherausrüstung, Teleskop, Angelausrüstung, eben all den Dingen, die man in den langen Wartephasen bei rotem Ampellicht durchaus gut gebrauchen kann) unserer jüngsten Mitglieder anstellen, sondern verabschiede mich, voller Vorfreude und Hoffnung auf einen langen Herbst mit vielen entspannten Ausfahrten im Kreise der Picardellics,
zufrieden lächelnd,
Thomas
Featured