Eric zeigt Chips
Sonntag, 9.00 Uhr. Dresden erwacht, dem trüben Wetter angepasst entsprechend zögerlich, unwillig und träge.
Lediglich an einem kleinen Parkplatz im Osten der Stadt herrscht reges Leben, ja pulsiert das Leben, das Radfahrerleben. Am Haltepunkt Cotta treffen sich die Picardellics zur gemeinsamen Anfahrt zu einem weiteren Rennen der gefürchteten Kategorie „Jedermann“. Eine gewisse Jugendlichkeit, Spritzigkeit ist für die Teilnahme an solchem sportlichen Ereignis unbedingte Voraussetzung, ist doch meist nach einer Stunde alles vorbei.
Zu einem Zeitpunkt also, zu dem die etwas reiferen Jahrgänge warm werden und anfangen das Rennen, die Geschwindigkeit und die Schmerzen zu genießen. In diesem Zustand aufsteigender Ekstase wird das „Jedermannrennen“ mit schlappen 40 km und erschöpften Jungmännern beendet. Nun gut, wir wollten es wieder einmal genauso und würden, ohne zu klagen, ohne murren und mit Freude teilnehmen, an dem 17. Rennen „Rund um das Muldental“, welches wie schon so oft im traditionsreichen Nerchau 11.00 Uhr gestartet werden würde. Die 10 Teilnehmer und deren Räder ließen sich recht bequem auf 4 Fahrzeuge verteilen. Und es ist bequem, wenn Mischka klein gefaltet auf dem Notsitz verbringt und Eric den guten Cinelli RAM im unmittelbaren Gesichtsfeld hat.
Gut eine Stunde vorm Start trafen wir uns dann mit Michi und seinen Passagieren in der langen Schlange der Anmeldung. Günstig war hier die günstige Position von Michi im vorderen Drittel der langen, sehr langen Schlange, konnten wir doch unsere Meldebögen vorreichen und mit der gesparten Zeit auf eine kurze Aufwärmrunde entlang der Strecke gehen.
Mischka zweifelte hier bereits an seinen radsportlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, schlug Jan doch ein recht vernünftiges tempo an, welches durchaus die intensive Schweißerzeugung initiierte. Der erste Berg war beeindruckend, lang und teilweise auch steil. Der Gegenwind, welcher hinter dem Berg lauerte versprach ebenfalls viel Freude. Auf der Rückfahrt, wenige Kilometer vor dem Start ereilte mich leider ein Platten am Vorderrad. Der Reserveschlauchreifen hing trocken und warm zuhause, da sonst Eric immer einen Ersatz mit hatte. Sonst, sonst immer ...
Also musste ich zügig auf der Felge ins Ziel hoppeln und verzweifelt versuchen von jemandem ein Vorderrad zu borgen. Meine Hoffnung Anjas Vorderrad zu nutzen, verlosch blitzartig als ich Anja in voller Picardellicsmontur sehen konnte. Sicher hätte ich an der Stelle mit roher Gewalt Zugriff auf Anjas Rad erhalten können, doch da Michi durchaus zu körperlichen Spitzenleistungen im Stande ist, schlug ich diesen Gedanken schnell wieder in den Wind, der außerhalb von Nerchau ziemlich stark blies. Die Variante Anjas Vorderrad mit Charme und viel Sensibilität zu ergattern schlug ich mir aus dem gleichen Grunde (Michis Bissigkeit) aus dem Sinn. Egal, standen doch noch genügend radsportbegeisterte Zuschauer, mehr als bei manch spanischem Profirennen, mit durchaus sehenswerten Material an der Strecke. Leider gingen die ersten 20 Anfragen komplett ins Leere. Niemand wollte mein luftloses Hyperon gegen eine schlichtes Mavic oder gar Shimanolaufrad tauschen. Erst ein 9jähriger Leipziger Radsportfan wies die nötige Courage und Sportlichkeit auf und überlies mir sein Laufrad, um sich an meinem (Originalzitat) „voll geilen Rad“ zu erfreuen.
Das Laufrad einbauen, im Startfeld einreihen und mit männlich, wortloser Verständigung zu Jan, den Sekunden später folgenden Startschuß mit einem Antritt zu untersetzen, war im Handlungsablauf nur noch für den aufmerksamsten Betrachter zu trennen. Nach dem Startschuss, stieg der Puls hektisch in die Höhe, weniger wegen des heftigen Tempos, sondern leider wegen der fehlenden Feinmotorik einiger Starter. Unmittelbar vor mir hatte ein Fahrer bereits beide Füße auf den Pedalen, bemerkte dann jedoch, die um ihn herum ebenfalls anfahrenden Radler, erschrak, stellte beide Füße wieder auf die Straße und riß das weiterrollende Rad quer zur Fahrtrichtung herum, um die Hälfte der Straße zu blockieren. Mein Ausweichmanöver brachte mich hinter einen Fahrer, der seinen Sturz vermeidend lediglich die komplette Straßenbreite benötigte, um wieder auf Kurs zu kommen.
Glücklicherweise befanden sich um mich herum noch einige zielorientierte und radbeherrschende Fahrer, mit denen und dem bereits erhöhten Puls es problemlos möglich war, die Lücken zu schließen. Das Feld schoß mt satten 40km/h die leichte Steigung hinauf durch den Ort, zögerte sich schlingernd um die erste richtige Kurve und flog bergab an die Mulde. Jan hielt das Tempo in anspruchsvoller Höhe und streckte das Feld übersichtlich in die Länge. Erste Aufrollerscheinungen und Pulkbildungen vor der Steigung nutzte Michi zu einem vehementen Antritt, womit das Tempo angenehm blieb und der Puls konstant schlagen konnte. Auf der Hochebene angekommen, stockte das Feld im Wind und zögerte merklich. Wir übernahmen die Spitze von Michi und versuchten auch gegen den Wind, den abgerissenen Fahrern das Leben schwer zu machen.
Im Fahrerfeld machten sich erste Resignationserscheinungen breit, ob der beeindruckenden weißblauen Übermacht, wollte zu dem Zeitpunkt kaum jemand anders den Wind auf der Brust spüren. Jeder Führungswechsel ohne einen Picardellic im Wind wurde mit einer Temporeduzierung honoriert. Dies ist nun nicht das, was ich mir von einem Radrennen, einem Rennen von harten Kerlen, die ohne zu jammern attackieren, sich quälen und ohne Zukunftsangst fahren, erwarte. Der geneigte Leser, die hoffnungsvolle Leserin, erahnt es sicher, zappelig schoss ich auf die linke Straßenseite in den Wind und ging. Es ging lange. Selbst auf der Abfahrt nach Grimma und noch danach auf der Brücke über die Mulde, ging mein Blick nach hinten ins Leere. Erst an der Steigung aus Grimma heraus, machten mich mitfühlende Zuschauer darauf aufmerksam, das das Feld kommt. Ätzend, echt ätzend, hatte ich doch wirklich die Hoffnung gehabt, wenigstens noch allein die Kuppe des Berges sehen zu dürfen.
Picco führte das Feld an mich heran. Die Freude des Feldes, das ein Mannschaftskamerad die Lücke schließt, schlug in Entsetzen um, als Picco den Druck nutzend davonstiefelte. Lediglich der spätere Sieger konnte unseren Bergfloh halten und die beiden verabschiedeten sich hier von den restlichen Fahrern.
Um wenigstens einen gewissen Trainingseffekt zu erzielen, gaben wir die Versuche bald auf aus dem Wind zu gehen, zu sehr drohte das tempo in peinliche Bereiche abzusinken. Einer der sich tapfer wehrenden Grimmaer ging alleine nach vorn weg. Michi, mitleidig wie immer, wollte ihm nachsetzen und ihn erlösen. Hier musste ich dann nachdrücklich Einspruch erheben, wollte ich doch genießerisch zusehen, wie der Tritt schwer, die Beine dick und die Atmung hektisch wird. Und genauso kam es. Ein weiterer der Grimmaer konnte sich das leid nicht mehr mit ansehen und versuchte seinen Vereinskameraden zu erlösen. Just in dem Moment in dem die beiden sich dann nach der langen und durchaus tapferen Zeit im Wind fanden, just in diesem Moment also, waren beide platt, breit und sichtlich erledigt. Am Berg aus Grimma heraus sammelten wir die zwei ein und holten sie zurück ins warme, windstille Feld.
Über die Kuppe hinweg, zuckte es mir nochmal in den Füssen und gemeinsam mit Michi erhöhten wir das Tempo. Es war ein kleiner Versuch zu testen, wer noch fahren will und ob es nicht gelingt, den einen oder anderen Fahrer, der ständig mit seinen Pedalen den Asphalt in der Kurve abhobelt, abzuhängen. Der test war in beiden Punkten negativ. Außer uns wollte niemand mehr die Spitzengruppe sehen und es gelang uns nicht die Gruppe signifikant zu verkleinern. Um Frank und Holger noch mitzunehmen, beliesen wir es dann bald mit unserem Experiment und fuhren wieder einträchtig schwatzend in der Führung. Michi fing dann bald an sich Brote zu schmieren, seine Hausaufgaben zu erledigen, Aquarelle zu malen etc. pp., mit anderen Worten: er langweilte sich. Um ihm wieder ein attraktives Ziel zu bieten und seine inzwischen laue Motivation zu steigern, versprach ich ihm den Sprintsieg aus dem Hauptfeld. Frank, Holger und ich würden für Michi den Sprint anfahren. Frank und Holger waren bald instruiert. Holger wollte sich lieber aus dem Sprint heraushalten, was bei einem sauberen Zug kein Problem werden würde. Leider gab es hier schon ein erstes Missverständnis, denn Holger schoss kurz nach unserem Gespräch in die spitze und wollte dort gar nicht mehr weichen. Aber ok, so viele Körner wie wir hatten, kam es auf ein wenig mehr oder weniger Führung nicht an und so fanden wir uns 4 Kilometer vorm Ziel aufgereiht an der Spitze wieder. Der erste Wechsel klappte bis zu mir super, dann ging ich leider zu stürmisch in die Führung womit Frank und Holger über die gesamte Straße verteilt im Wind standen. Ein nochmaliger Wechselversuch brachte kein besseres Ergebnis, vielleicht waren doch schon mehr Körner als vermutet verloren gegangen. Zudem der Wind verdammt hart blies und die anderen fahrer unbedingt in unserem Schutz die Tour beenden wollten. Die Taktik musste zügig geändert werden, Nerchau schon auf Sichtweite zog ich wieder nach links raus, legte noch etwas drauf, fasste den Lenker unten, ganz unten und konzentrierte mich erstmal nur noch auf das Atmen. Einige tiefe Atemzüge später dann der erste vorsichtige Blick zwischen den Beinen hindurch nach hinten. Ein einzelner Fahrer versuchte dranzubleiben. Ich ging aus dem Wind und lies ihn führen. 50 Meter hinter uns der rest der Gruppe. Der Wind wehte immer noch heftig ins Gesicht, das tempo hoch und die Beine dick. Er quälte sich ziemlich. Ich entspannte derweil, wusste ich doch Michi hinter uns nahen, der die einsetzende Aufholjagd sicher gut für seinen Sprint nutzen konnte. 200 Meter noch zum Ziel. Es zuckt in meinen Fingern. Mein Mitfahrer und Schattenspender ruckt nochmal, wirft alles aufs Pedal, ich suche mir gemächlich den richtigen Gang aus, visiere die 100 Meter Markierung, gehe aus dem Sattel und hole mir noch vor dem heranrasenden Michi den Sprint der Verfolgergruppe.
Der 7. Platz ist natürlich genauso peinlich, wie das desaströse Versagen unserer drei Fahrer in der Spitzengruppe. 3 Mann, davon zwei ausgeruhte junge Burschen schaffen es nicht, den anderen 3 Fahrern den Sieg vor der Nase wegzuschnappen. Man, man, man, da muß man sich ewig, lang und breit auf schier endlosen Grundlagentouren immer wieder Berichte von Fernsehübertragungen erzählen lassen, wer wann wie und warum gewinnt und wie der sprint abging. Und dann. Eine klassische Situation im Radsport, eine Mannschaft kontrolliert das Feld. 3 Fahrer sind in der Spitzengruppe. Picco, vor dem alle schon Respekt haben und zwei Fahrer, die mit Ihren sauguten Zeitfahrergebnissen hausieren. Und keiner dabei, der 10 km vor dem ziel den Mut hat zu attackieren, die anderen Fahrer zwingt hinterher zujagen, um dann vom nächsten Picardellic abgelöst zu werden. 3 Mann, das wären mindestens 5 Attacken gewesen, da kann der stärkste Fahrer nicht jedes Mal hinterher steigen. Im schlimmsten Fall wären halt zwei der Picardellics 5. und 6. geworden ..oh ... dann ist ja doch der schlimmste Fall eingetreten ... und dies ohne Mut, ohne Risiko und ohne berichtenswerte Erlebnisse. Man, Man, Man.
Eric hat uns noch das Gesicht waren lassen und wenigstens eine ordentliche Flasche Sekt mit nach Hause gefahren.
Die Siegerehrung erfolgte der gut organisierten Veranstaltung entsprechend zügig, noch während die letzten Fahrer einrollten.
Sandra, Grit, Anne, Anja und Bratwurst verteilten sich gleichmässig im Frauenfeld, leider ohne separate Wertung ihres Zieleinlaufes. Die tapferen, zarten und hübschen Frauen quälten sich teilweise allein oder mit einigen Männern im Schlepptau über die windige und hügelige Strecke und konnten trotzdem im Ziel noch verzückend lächeln. Grit rundete die im Prinzip (2.Platz für Eric) gelungene Veranstaltung mit ihrem köstlichem Pflaumenkuchen ab.
Gut gestärkt und wie gesagt im Prinzip zufrieden, machten wir uns dann entlang der beschaulich plätzschernden Mulde auf den Heimweg. Anfangs schien sogar noch die Sonne und der Rückenwind trieb uns Richtung Dresden. Mischka hatte dann leider noch einen Durchschlag und wie wir dabei feststellen konnten, eine defekte Gaspatrone. Ein vorbeischlendernder Wanderer borgte uns seine Luftpumpe, wodurch wir unsere Fahrt unter der dichter werdenden Wolkendecke fortsetzen konnten.
Ab Nossen wurde es zunehmend feuchter. Meine Carbonbremsbeläge, kooperierten dabei gar nicht mehr mit Jans Vorderrad. Aber auch ein schleifendes Geräusch statt einer spürbaren Verzögerung kann Sicherheit vermitteln. Eric brauchte bei dem Wetter nochmal richtig Druck aufs Pedal. Teilweise fuhren wir dann schon etwas, aber nur gaaaanz leicht oberhalb des Grundlagenbereiches.
Der wirkliche Regen verschonte uns, so das die Taschenübergabe bei Jan entspannt und mit weiteren Gesprächen untermalt, stressfrei verlief. Mit insgesamt 150 Kilometern und einem reichlichen Erfahrungsschatz zum Verhalten und der Taktik im Rennen, haben wir eine gute Ausbeute und reichlich Diskussionsstoff für unseren geplanten Aufstieg in die C-Klasse gesammelt. Nun kommt es darauf an, diese Erkenntnisse kritisch zu prüfen und umzusetzen, empfiehlt
Thomas